Brexit-Tränen in Oxford Ein Beitrag von Prof. Dr. Reinhard Bork

The Oxford University City, Photoed in the top of tower in St Marys Church. All Souls College, United Kingdom, England
Bild: Fotolia

Professor Dr. Reinhard Bork, Universität Hamburg, befindet sich zur Zeit zu einem Forschungsaufenthalt an der Universität Oxford. Dort hat er unmittelbar die Wirkung der Brexit-Abstimmung auf die akademische Welt erlebt. Für den RWS Blog schreibt er darüber und erläutert auf eine sehr persönliche Weise, welche dramatischen Folgen das Abstimmungsergebnis für die englische Forschung und Wissenschaft haben wird.

Lesen Sie hier seinen Bericht:

„Let’s have lunch!“ Wenn man an einem Freitag Morgen um 8 Uhr von einer Oxforder Kollegin per E-Mail eine derart dringliche Aufforderung zum Mittagessen bekommt, muss schon etwas Besonderes passiert sein. In diesem Fall war zwei Stunden zuvor das Auszählungsergebnis zugunsten des Brexit verkündet worden, die Einladung also eine echte Solidaritätsadresse! Der Lunch fand im Senior Common Room eines der wohlhabendsten Colleges Oxfords statt und war eine der traurigsten Veranstaltungen, die dieses College je gesehen hat. Oxford hatte – wie viele andere Universitätsstädte – mit über 70% für „remain“ gestimmt. Niemand hatte erwartet, dass „leave“ gewinnen würde. Alle waren geschockt und konsterniert, wütend und traurig – das erste Mittagessen, bei dem tatsächlich und immer wieder Tränen flossen.

Die Universitäten fürchten jetzt um ihre Anbindung an die europäische Wissenschaftslandschaft. Sie erhalten aus Brüssel im Vergleich zu anderen Ländern überproportional viele Forschungsmittel, profitieren in ihren Forschungsteams von der Mitwirkung zahlreicher Wissenschaftler/innen aus EU-Ländern, sind Standort von europäischen Großforschungsanlagen und entsenden ein erhebliches Forscher-Kontingent in europäische Projekte auf den Kontinent. Alles das ist jetzt in Gefahr. Aber nicht nur im Großen, auch im Kleinen stellen sich viele Fragen: Kann ein englischer Jurist noch sinnvoll an einem Kommentar zum Europäischen Recht mitwirken? Kann ein solcher Kommentar noch vernünftigerweise in einem englischen Verlag veröffentlicht werden? Hat es noch Sinn, an einem dem Europäischen Recht gewidmeten Kongress in England teilzunehmen, wo doch feststeht, dass dieses Land an diesem Recht gar kein Interesse mehr hat?

Und was sind die Folgen für die Lehre? Deutschland entsendet jährlich etwa 13.000 Studierende nach England, die nur die (auch schon nicht unerheblichen) Inländer-Studiengebühren zahlen, während bei Studierenden aus anderen Staaten, etwas aus China, Russland oder den USA, ganz anders zugelangt wird. Müssen jetzt auch Studierende aus der EU mehr zahlen? Was ist mit dem europäischen Studentenaustauschprogramm „Erasmus“, das bisher englischen Studierenden ein Studienjahr auf dem Kontinent ermöglichte und solchen aus der EU das völlig gebührenfreie Studium in England? Fällt das alles jetzt fort?
England hat damit – was vielfach nicht bekannt ist – bereits erhebliche Erfahrungen gesammelt. Seit sie aus dem Justizprogramm der EU ausgestiegen sind, können englische Forscher dort keine Förderanträge mehr stellen. Wir haben gerade ein von der DG Justice gefördertes, von einem englischen Kollegen geleitetes Forschungsprojekt abgeschlossen und auf unserem letzten Treffen Folgeprojekte erwogen. Es wird sie nicht geben, jedenfalls nicht unter der Leitung dieses Kollegen. Lapidar heißt es heute in der von der DG Justice veröffentlichten Liste teilnahmeberechtigter Staaten: „The Member States (MS) of the European Union (EU), including their overseas departments, except for the United Kingdom and Denmark.“ Das wird dann für England bald für alle EU-Fördermittel gelten, auch im Wissenschaftsbereich.

Eine besonders anrührende und zugleich beunruhigende Reaktion bekamen wir übrigens am Sonntag nach dem Brexit-Referendum von einer Nachbarin, die bei uns klingelte, um sich – wie sie sagte – für die Entscheidung zu entschuldigen. Wir fanden das erst unnötig, aber angesichts der fremdenfeindlichen Berichte aus Yorkshire, in der Ausländer (manchmal auch „ausländisch aussehende“ Engländer) seit dem 24.6. massiv angegangen und bedroht werden, oft begleitet von dem neuen Schlachtruf „we voted you out“, auch  nicht völlig aus der Luft gegriffen. England lernt jetzt viel über sich selbst, beispielsweise über den gnadenlosen Egoismus dieses Staates im internationalen Konzert, über die tiefe Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten, über den Zynismus der politischen Klasse oder über den völligen historischen Realitätsverlust. In den Worten meiner englischen Kollegin: „Dies ist nicht mehr mein England. Alles, worauf ich vertraut und mich verlassen habe, ist weggebrochen. Ich fühle mich hilflos.“

Was bleibt, ist der persönliche Austausch. Die Kollegin hat bei dem erwähnten Mittagessen geradezu flehentlich darum gebeten, die englischen Wissenschaftler jetzt nicht zu verdammen und alle Brücken abzubrechen. Dafür gibt es nun auch in der Tat keinen Anlass. Gottseidank können weder „leave“ noch „remain“ darüber entscheiden, wer mit wem wissenschaftlich zusammenarbeitet, wer in welches Land zu welchen Gastvorlesungen oder Forschungsaufenthalten eingeladen wird und wer mit wem befreundet ist. Da waren wir uns schnell einig: Es geht um die Menschen.

 

Prof-Reinhard-BorkProf. Dr. Reinhard Bork ist geschäftsführender Direktor des Seminars für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg. Er war nebenamtlich sechs Jahre als Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht tätig und hat in 7. Auflage ein Lehrbuch zum Insolvenzrecht sowie – zusammen mit RiBGH Prof. Dr. Gehrlein – in 13. Auflage das RWS-Skript Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung publiziert. Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der Zeitschriften ZIP und KTS sowie Mitherausgeber und Mitautor des InsO-Kommentars Kübler/Prütting/Bork. Seit vielen Jahren ist er Referent und Tagungsleiter bei Fachseminaren des RWS Verlags.

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